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Biograf über Wladimir Putin: „Ich halte Putin nicht für einen Selbstmörder“

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Von: Alexander Eser-Ruperti

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Im Ukraine-Krieg mutmaßen viele Medien über Wladimir Putins Zurechnungsfähigkeit. Damit machen sie es sich zu einfach, findet Biograf Hubert Seipel.

Moskau – Krieg ist ein Tabubruch, immer. Dieser Auffassung ist auch der Putin-Biograf und Journalist Hubert Seipel. Im Gespräch mit der Kreiszeitung erklärt er, was er von Zuschreibungen Putins als „unzurechnungsfähig“, oder „irre“ hält und welche Rolle die Personalisierung von Konflikten seiner Meinung nach im Krieg spielt. Für wahnsinnig hält Seipel, der in der Krise derzeit nur einen Ausweg sieht, den russischen Präsidenten keineswegs: Er glaubt, die Diskussion klammert jede Menge entscheidenden Kontext aus.

Herr Seipel, in der aktuellen medialen und gesellschaftlichen Debatte geht es immer wieder um pathologische Erkläransätze für Russlands Angriffskrieg, es wird über Putins mentale Gesundheit gesprochen, das Bild des „Mad Man“ gezeichnet. Wie stehen Sie dazu?

Krieg ist immer ein klarer Tabubruch, auch der in der Ukraine, selbst wenn Krieg seit Menschengedenken regelmäßig geführt wird und alle beteuern, ihn nicht zu wollen. Im Angesicht des menschlichen Leids, der Kriegstoten und der hunderttausenden von Menschen auf der Flucht können Sie kaum über Ursachen des Krieges reden. Wir hatten in Europa jetzt lange Zeit Frieden, aber bei diesem Frieden waren die Kriege nur woanders: In Afghanistan, Libyen, dem Irak oder in Mali und wir waren militärisch dabei.

Und dann versucht man, den Gegner die Geistesreife abzusprechen?

Den Gegner als Irren zu erklären, ist ein altes politisches Muster, denn für alle Beteiligten gilt die PR-Formel: „Wir wollen keinen Krieg.“ Also kann nur der Gegner verrückt sein. Jede Partei versichert, zum Krieg gezwungen worden zu sein, um zu verhindern, dass der Gegner „unsere Werte“ zerstört, unsere Freiheiten gefährdet oder uns selbst ganz und gar vernichtet. Das war schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg im August 1914 so. 

Auch die Personalisierung von Konflikten ist typisch für die psychologisch Kriegsführung. Die Aufteilung ist klar.   Derzeit ist in der Medienlandschaft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj der Held und der russische Präsident der Wahnsinnige. Diese Betrachtung klammert allerdings die Frage aus, wie und warum es so weit kommen konnte.

Ukraine-Krieg: Der Journalist und Putin-Biograf Hubert Seipel hält den russischen Präsidenten Wladimir Putin keineswegs für unzurechnungsfähig. (Symbolbild)
Ukraine-Krieg: Der Journalist und Putin-Biograf Hubert Seipel hält den russischen Präsidenten Wladimir Putin keineswegs für unzurechnungsfähig. (Symbolbild) © Sergei Guneyev/ dpa

Russland verfolgt klare Interessen in der Ukraine, diese hat Putin immer wieder mehr oder weniger deutlich formuliert. Gleichzeitig wird ihm irrationales Vorgehen nachgesagt. Erkennen Sie da ein Muster?

Politik wird von der Geschichte bestimmt, von den Erfahrungen, die Menschen gemacht haben, von aktuellen Ereignissen und konkreten Interessen. Der russische Präsident ist in St. Petersburg aufgewachsen, hat Jura studiert und anschließend für den russischen Geheimdienst gearbeitet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war er erst Vizebürgermeister unter seinem früheren Juraprofessor Sobtschak in seiner Heimatstadt, bevor er unter Jelzin im Kreml Karriere machte.

Und durch den Zerfall der Sowjetunion wurde Wladimir Putin geprägt?

Putin hat die Auseinandersetzungen zwischen dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton und einem schwachen Boris Jelzin sehr genau verfolgt und hat auch den berühmten Satz des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay nie vergessen, wie er mir einmal erzählt hat. Der Zweck der NATO in Europa sei es, verkündete Ismay, “to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down.” 

Seither hat sich die NATO von ehedem 12 Mitgliedern auf 30 Mitglieder in Richtung Osten bis hin zur russischen Grenze ausgeweitet. Man kann geschichtliche Entwicklungen nicht zurückdrehen. Aber den Satz, die NATO werde sich „keinen Inch weiter nach Osten ausbreiten“, den der amerikanische Außenminister James Baker am 9. Februar 1990 im Katharinensaal des Kremls öffentlich als Preis für die deutsche Wiedervereinigung verkündet hat, hat sich bei Wladimir Putin gleichfalls tief eingeprägt.

Hubert Seipel zu Atomwaffen und Ausweitung des Ukraine-Kriegs: „Ich halte Putin nicht für einen Selbstmörder“

Mit Blick auf die Perspektive beschwören viele Medien bereits den Gebrauch atomarer Waffen. Halten Sie den Einsatz von Atomwaffen oder eine Ausdehnung des Kriegs auf andere Länder für denkbar?

Ich halte Putin nicht für einen Selbstmörder. Aber ich bin auch nicht sein Psychoanalytiker und kein Prophet, nur Journalist.

Auch diejenigen, die Putin bisher für einen durchdachten Strategen hielten und nicht von einer Ausweitung des Krieges ausgingen, könnten in Anbetracht der Schüsse auf das Atomkraftwerk in Saporischschja zweifeln. Wie ordnen Sie die Ereignisse ein?

Kann sein oder auch nicht sein. Im Kriegszustand bin ich ziemlich skeptisch, was Meldungen über Sieg oder Niederlagen, Verluste oder Gräueltaten angeht – egal, welche Seite sie verkündet. Das kann ich nicht beurteilen, weil mir die gesicherten Informationen dazu fehlen.

Der Wladimir Putin Anfang der 2000er Jahre hätte vermutlich anders agiert als heute. Wie erklären Sie sich den Kurswechsel Russlands und in welchem Zusammenhang damit sehen Sie die NATO-Osterweiterung?

Putins klare geopolitische Ansage kam im Mai 2008 in Bukarest. Damals versprach die NATO auf Druck von George Bush der Ukraine die Mitgliedschaft in der NATO. Auf Druck von Deutschland und Frankreich, allerdings ohne exaktes Datum. Putin war auch in Bukarest und warnte das Militär-Bündnis: „Wir haben kein Vetorecht und wir tun auch nicht so, als ob wir eines hätten.“ Aber Russland habe konkrete Sicherheits-Interessen. Er wies mit Nachdruck auf die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim hin. Die Ansage war unmissverständlich: „Das Entstehen eines mächtigen Militärblocks an unserer Grenze würde Russland als direkte Bedrohung der Sicherheit unseres Landes sehen.“

Er war spätestens seit diesem Treffen überzeugt, dass die USA das umsetzen würden, was der ehemalige US-Sicherheitsberater Brzenski schon 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ vorgeschlagen hatte. EU und NATO sollten die ehemaligen Osteuropäischen Staaten schnell in die EU und gleichzeitig in die NATO aufnehmen und spätestens 2010 sollte der Prozess auch mit der Ukraine abgeschlossen sein. Den Rest kennen Sie.

Putin Biograf über Entwicklungen im Ukraine-Krieg: „Die wichtige Frage ist nur, wie man Verletzungen der Vergangenheit heute verrechnen kann.“

Was treibt Wladimir Putin genau an in diesem Krieg?

Es sind durchaus unterschiedliche Motive. Zum einen die gewachsene Einschätzung, dass der Westen Russland nicht für wichtig und für gleichberechtigt ansieht und die EU und Deutschland seiner Meinung nach nur erwarteten, dass sich Moskau den europäischen Regeln anzupassen hat. Putin meint, dass die deutsche Politik vornehmlich nur noch die Interessen der ehemaligen Sowjetrepubliken wie Polen oder der baltischen Staaten berücksichtigt, die alle noch eine Rechnung aus den Tagen der Sowjetunion offen haben. 

Die wichtige Frage ist nur, wie man Verletzungen der Vergangenheit heute verrechnen kann. Der Krieg, der sich seither um die jeweils eigene nationale Erinnerung dreht, statt um die Erinnerung an die Kriege hat nur eines zur Folge, nämlich „Krieg.“ Das war der letzte Satz, den ich in meinem Buch  „Putins Macht“  geschrieben habe und das war noch vor dem Einmarsch.

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Welchen Antriebsgrund gibt es noch für Wladimir Putin?

Der andere Grund ist die Frage der Neutralität der Ukraine. 2015 hatten sich Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland geeinigt, mit dem Vertrag Minsk 2 den Konflikt friedlich zu lösen. Das ist bis heute nicht passiert. Die zentralen Punkte, dass Kiew eine Verfassungsreform verabschiedet, die den Seperatisten-Gebieten nach einer Abstimmung unter Aufsicht der OSZE eine Autonomie einräumen, hat der ukrainische Präsident Selenskyj wie schon sein Vorgänger blockiert und wir haben auch keinen Druck ausgeübt. 

Am 9. Dezember 2019 beim Treffen der Präsidenten und Angela Merkel in Paris war über Monate zuvor verhandelt und beschlossen worden, auf der gesamten Waffenstillstandslinie die schweren Waffen abzuziehen. Der neu gewählte Präsident erklärte einer verärgerten Merkel, er werde dies trotzdem nicht machen – aus innenpolitischen Gründen. Daran hat sich dann auch nichts mehr geändert. Die Lage hat sich zugespitzt. Die NATO hat im Juni 2020 die Ukraine in den Status  eines „bevorzugten Partners“ erhoben, um „die weitere Kooperation zu vertiefen“. Amerika hat weitere Waffenlieferungen an Kiew durchgezogen und Putin hat im Donbass aufgerüstet. Merkel hat sich nicht mehr engagiert.

Zuletzt hatten sich Mutmaßungen um Putins Gesundheit medial gehäuft

Zuletzt hatten verschiedene Medien immer wieder über Wladimir Putins Gesundheitszustand gemutmaßt. Es wurde gerätselt, ob das Vorgehen des russischen Präsidenten im Ukraine-Krieg mit Problemen seiner geistigen Gesundheit einhergehen könnte. Hiergegen regt sich unter anderem die Kritik Hubert Seipels, der darin ein altes Mittel der psychologischen Kriegsführung sieht. Seipel kritisiert insbesondere, dass eine solche Betrachtungsweise den Diskurs maßgeblich verschiebt und wichtigen Kontext in einer komplexen weltpolitischen Gemengelage außen vor lässt.

Hubert Seipel ist preisgekrönter Dokumentarfilmer und Journalist. Er schrieb unter anderem für den Stern und arbeitete als Auslandskorrespondent für den Spiegel. Seipel führte auch das weltweit erste Fernsehinterview mit dem Wistleblower Edward Snowden, das die ARD im Januar 2014 ausstrahlte. Über Wladimir Putin verfasste der Journalist bereits mehrere Bücher. (Dies ist Teil zwei aus einem zweiteiligen Interview)* kreiszeitung.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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